Die Geistige Sonne
Band 1
Mitteilungen über die geistigen Lebensverhältnisse des Jenseits
- Kapitel 92 -
Der Liebes-Dienst-Streit und die drei Proben
Der schlichte Mann fragt unseren Prior, was nun mit den also gekleideten und geretteten Brüdern zu geschehen hat. Und der Prior spricht: Lieber Freund und Bruder! Die Aufgabe an mich von seiten des erhabenen Boten des Herrn lautet, sie alle hinauszuführen in den Garten, der ehedem unser fälschliches und klösterliches ,,Paradies" bildete, wo sie dann sicher von dem Boten eine fernere Anweisung bekommen werden, welchen Weg sie von dort einzuschlagen haben. Das ist's, was ihnen noch bevorsteht und wofür ich Sorge tragen sollte, daß sie nämlich zu dem Behufe in den Garten kämen.
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Der schlichte Mann spricht: Nun, diese Aufgabe wird wohl leicht zu lösen sein, und du wirst Meiner dabei nicht vonnöten haben. Der Prior aber spricht: O lieber Freund und Bruder, tue alles, was du willst, aber darum bitte ich dich, daß du mich nicht verlässest. Denn ich muß dir aufrichtig sagen, daß ich ein Gefühl habe, welches mir sagt, wenn du mich verließest, so wäre es mir, als hätte mich mein eigenes Leben verlassen! Daher wirst du mich nicht verlassen, und wäre die Aufgabe noch einmal so leicht zu lösen, als sie es ist; denn du hast bis jetzt alles so günstig geleitet und hast mir und diesen armen Brüdern im Namen des Herrn sichtbar geholfen bis auf diesen Punkt, da wir jetzt noch stehen. Also, bitte, hilf im Namen des Herrn mir und diesen armen Brüdern nun auch bis zum Schlusse! Darum bitte ich dich, lieber Freund und Bruder, aus dem inneren lebendigen Grunde meines Herzens.
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Der schlichte Mann spricht: Ja, mein lieber Freund und Bruder, es wäre in diesem Falle schon alles recht; aber nur ein einziger Umstand ist dabei zu beachten, nämlich: der Himmelsbote hat dir diese Aufgabe zu lösen aufgegeben. Wenn Ich aber nun mit dir zu ihm hinauskomme und der Bote ersieht, daß nicht du, sondern Ich deine Aufgabe gelöst habe, - sage mir, bist du im voraus versichert, daß er sich darum mit dir zufrieden stellen wird? Kannst du Mir die Versicherung geben, daß Ich dir nicht schade, so Ich mit dir hinausziehe, da will Ich es ja recht gerne tun, was du verlangst; aber schaden möchte Ich dir in keinem Falle, ja dich nicht einmal in eine große Verlegenheit setzen vor dem Angesichte des Himmelsboten. Was meinst du nun wohl in dieser Hinsicht?
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Der Prior spricht: O lieber Freund und Bruder, wenn es nichts anderes als nur das ist, da gehe du kecklich mit mir hinaus; denn so du auch nicht mit mir herausgegangen wärest, so hätte ich es ohnehin augenblicklich dem erhabenen Boten selbst angezeigt, wie nur Du allein diese mir gestellte Bedingung gelöst hast, und ich dabei nicht nur kaum als ein fünftes, sondern gutweg zehntes Rad am Wagen zu betrachten bin. Also wirst du solches wohl nicht als einen Widergrund annehmen, um deshalb nicht weiter mit mir zu gehen. Was meinen Nutzen oder allfälligen Schaden anbelangt, da hat es seine geweisten Wege. Denn wenn es auf mich ankommt, fürwahr, da gehe ich, wenn es möglich wäre, für dich sogar in die Hölle, geschweige erst, daß ich mir aus Liebe zu dir nicht sollte etwa ein paar scharfe Worte von seiten des Himmelsboten gefallen lassen.
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Der schlichte Mann spricht: Gut, lieber Freund und Bruder, in dieser Hinsicht wären wir im reinen; aber jetzt kommt ein anderer, noch viel wichtigerer Punkt. Ich kenne die scharfe Genauigkeit deines Himmelsboten und weiß, daß er im Namen des Herrn nicht um ein Atom mit sich handeln läßt, und aus diesem Grunde ist mir nun gerade etwas Wichtiges eingefallen.
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Siehe, es könnte sehr leicht geschehen, daß der Himmelsbote alle diese nun freigemachten Brüder vermöge seiner großen Macht alsbald wieder in ihren vorigen Zustand zurücktreiben möchte, weil nicht du, sondern Ich an ihnen deine dir vom Himmelsboten gegebene Bedingung gelöst habe. Soviel aber kann Ich schon machen, daß es der Bote nicht erfahren soll, daß ich diesen deinen armen Brüdern geholfen habe. Bei solchen Umständen kommst du dann vor den Boten als ein vollkommen gerechtfertigter Mann, der seine Aufgabe nach seiner Weisung vollkommen gelöst hat.
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Der Prior spricht: O lieber Freund und Bruder! Eher als ich mir etwas zuschreiben sollte, dessen ich nicht im allergeringsten teilhaftig sein kann, will ich ja doch ums vielfache eher und lieber in die Hölle. Ich aber will ja selbst vor dem Boten offen gestehen, daß nur dem Herrn und dir das Gelingen meiner Sendung allerdankbarst zuzuschreiben ist. Und sollte sich der Bote damit nicht zufrieden stellen und darum die armen Brüder von neuem wieder in ihrer nun erhaltenen Freiheit beeinträchtigen, so will ich mich vor ihm sogleich in den Staub hinwerfen und ihn allerdemütigst bitten, daß er anstatt dieser Brüder mich ganz allein im Namen des Herrn züchtigen solle, wie er es nur immer will; ich will ja gern alle Schuld auf mich nehmen!
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Der schlichte Mann spricht: Lieber Freund und Bruder, du gefällst Mir im Ernste überaus wohl; diesen zweiten Punkt hätten wir auch gelöst, und er soll Mich nicht abhalten, mit dir hinauszugehen.
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Aber nun ist noch eine dritte Klippe; kannst du auch über diese springen, dann soll Mich nichts mehr abhalten, dir deinen Wunsch zu gewähren. Siehe, hier im Reiche der Geister ist das schon allgemein unabänderliche Regel und Sitte, daß die vollkommeneren Geister des oberen Himmels, zu denen auch Ich gehöre, im Augenblicke alles lebendig erfahren, was nur immer irgend in Beziehung auf den Herrn wo immer gesprochen und verhandelt wird. Und da habe Ich denn auch das gute Gleichnis von seiten des Boten vernommen, in welchem er den Herrn als König darstellte, der allein durch eine außerordentliche Liebe und Demut zugänglich ist.
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In diesem Gleichnisse, sagte der Bote, hat nur der Herr allein die Schlüssel zum Gefängnisse und sonach auch nur Er allein das Gefängnis zu eröffnen oder die Brücke über die Kluft zu bauen vermag und bauen kann, da niemand anderer dieses Recht hat. Du hast zwar wohl in der Fülle deines Geistes, deines Lebens und der Wahrheit den Herrn angerufen, daß Er dir und den armen Brüdern helfe. Während du aber im besten Vertrauen die Hilfe vom Herrn erwartetest, kam Ich wie zufällig in das große Gemach, und als Ich zu dir kam, fingst du sobald an, Mir deine Not zu klagen. Du dauertest Mich, und da du Mich auch gar herzlich ersuchtest, dir zu helfen und Ich dir darum auch nach Meiner Kraft geholfen habe, so fragt es sich hier, ob solche Hilfe der Bote wohl annehmen wird zufolge seines dargestellten Gleichnisses?
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Denn es hätte ja offenbar, verstehe wohl, der erhabene König selbst kommen und dir helfen sollen. Wie ist die Sache nun zu betrachten? Wird dir der Bote nicht etwa sagen: Warum hast du beim Anblicke dieses Freundes und Bruders das Vertrauen zum Herrn insoweit fahren lassen, daß du diesen Freund und Bruder zur Hilfeleistung hast auffordern mögen, indem du aus dem Gleichnisse wohl hättest erkennen und sehen müssen, daß zu solch einer Erlösung aus dem Gefängnisse niemand außer dem Herrn die gerechten Schlüssel besitzt?
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Der Prior spricht: O lieber Freund und Bruder, das ist freilich eine andere Frage, bei deren gerechter Beantwortung mir sehr heiß zumute sein wird; aber weißt du was, ich bleibe einmal bei der Wahrheit. Ich habe niemanden außer den Herrn angerufen; und in meiner möglich vollkommensten Hingebung zum Herrn kamst du daher. Kann ich es nun anders denken, anders machen und anders glauben, als daß der Herr, durch Seine unendliche Erbarmung veranlaßt, dich in Seinem Namen mir zur Hilfe gesandt hat, indem ich es doch zufolge meiner gar zu großen Unwürdigkeit wohl ewig nie hätte verlangen können, daß der allerheiligste Herr Himmels und der Erde Selbst hätte kommen und mir Allerunwürdigstem helfen sollen! Ihm sei aber darum dennoch alles Lob, aller Preis und alle Ehre, indem doch nur Er durch deine Sendung mir und diesen Brüdern geholfen hat! - Also will ich auch vor dem Boten reden, und er soll dann im Namen des Herrn mit mir machen, was er will, denn ich will alles auf mich nehmen.
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Der schlichte Mann spricht: Nun gut, ich sehe, daß du einen vollkommen getreu redlichen Liebewillen hast, und so soll Mich denn auch nichts mehr abhalten, mit dir und diesen deinen Brüdern hinaus in den Garten zu ziehen. Aber wenn dann der Bote allenfalls dich darum irgendwohin hart verurteilen möchte, was werde dann wohl Ich tun an meiner Stelle?
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Der Prior spricht: Lieber Freund und Bruder, in dieser Hinsicht ist mir gar nicht bange; ich werde dir freilich wohl nicht helfen können, es wird aber auch dessen ganz sicher nicht vonnöten haben. Denn du bist einer, der sicher keiner geschöpflichen Hilfe vonnöten hat, indem du als ein Bewohner des obersten Himmels ohnehin mit der Fülle der göttlichen Kraft ausgerüstet bist. Im Gegenteile aber bitte ich nur im Namen des Herrn dich, wenn es mir etwa gar zu schlecht gehen sollte, daß du mir dann hilfst, so wie jetzt im Namen des Herrn.
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Der schlichte Mann spricht: Nun gut, ich will auch dieser deiner Bitte vor dem Herrn gedenken; und so laß uns denn hinausziehen.