Die Geistige Sonne
Band 1
Mitteilungen über die geistigen Lebensverhältnisse des Jenseits
- Kapitel 26 -
Fortsetzung des Besuchs bei Stoikern
Der Vernunftpräses: Wie findet ihr euch hinsichtlich des Unendlichen? - Ihr saget: Nicht anders als endlich und begrenzt. Sehet, ihr gebet in dieser Antwort schon selbst den allgemeinen Grund an, warum ich mir diese Gegend zum Aufenthalt erwählt habe. Ich sage euch darum: Wahrhaft weise ist nur derjenige, der die Grenzen seiner Vernunft gefunden hat und erkennt dann mit dieser seiner Vernunft, wieviel da not tut zu der Sättigung seines Geistes. Diese Gegend hier entspricht den wohlerkannten Grenzen meiner Vernunft ganz genau, und ihr Wahlspruch daraus lautet: Begnüge dich allezeit mit dem, was deiner Beschränktheit entspricht; überschreite nie den Kreis deiner Erkenntnisse und erkenne und finde dich selbst in diesem deinem Kreise, so hast du das Glück deines Lebens im vollkommensten, dir am meisten zusagenden Grade gefunden. Sehet, aus dem Grunde ist diese Gegend, die ihr für sehr unwirtlich findet, für mich vollkommen passend, weil sie nicht mehr bietet, wie gerade nur so viel, als den Grenzen meiner Vernunft entspricht. Wenn ich demnach irgend jemandem nützlich sein kann, so kann ich solches ja nur innerhalb des Horizontes meiner Erkenntnisse; außerhalb desselben müßte ich ein Laie sein und wäre außerstande gesetzt, jemandem auch nur im geringsten nützlich sein zu können. - Aus diesem nun könnt ihr ersehen, warum ich mir gerade diese Gegend und keine andere zum Aufenthalt erwählt habe. So ihr aber etwa meinen würdet, mich könnte allenfalls eine Weisheitseitelkeit bestechen, um vor anderen als ein Licht zu glänzen, da würdet ihr euch an mir sehr gewaltig irren. Denn mein unerschütterlicher Grundsatz lautet also: So du jemandem nützen willst, da erkenne wohl die ganze Sphäre, da du ihm nützen möchtest; kennst du aber die Sphäre nicht, da bleibe mit deiner Philanthropie hübsch zu Hause, denn wer mehr geben will, als er hat, der ist entweder ein Narr oder ein Betrüger.
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Der Anführer spricht: Unser allerschätzbarster Freund! Du hast schon wieder überaus weise gesprochen, und wir können dir durchaus keine Einsprache tun; nur ein Punkt kommt uns etwas dunkel vor. Und da du bisher schon so gefällig warst, uns zu berichtigen und unsere Anliegen vollgültig aufzuklären, so wirst du schon auch so gütig sein und uns gestatten, daß wir uns auch über diesen Punkt bei dir Rat holen.
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Und der Vernunftpräses spricht: Liebe Freunde, solange ihr auf diesem meinem Territorium euch befindet, könnt ihr mir jede Frage stellen und könnt versichert sein, daß ich euch über jeden Punkt eine für diesen meinen Bezirk vollgültige Aufklärung zu geben imstande bin. Und so gebet mir denn euren zweifelhaften Punkt kund.
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Der Anführer spricht: Du hast in deiner weisen Erörterung über eine bestimmte Begrenzung deines Erkenntnishorizontes gesprochen, und es sei durchaus unweise, sich über diesen Horizont hinauszuschwingen. Das letzte ist uns begreiflich, denn wahrlich, niemand kann über seine Kräfte etwas tun, und will er solches, so ist er schon sicher insoweit ein Tor, insoweit er solche seine Grenzen überschreiten will. Aber siehe, als du geboren wardst, da hatte deine Vernunft sicher nicht einen so weit ausgedehnten Horizont, als sie ihn eben jetzt hat. Du mußtest also den kleinen Horizont deiner Erkenntnisse offenbar stets mehr und mehr erweitert haben, auf daß du durch solches Erweitern deinen Erkenntnishorizont bis zum gegenwärtigen erstaunenswürdigsten Umfang getrieben hast, und es läßt sich demnach fragen, ob solch ein Horizont schon als ein vollends fixierter oder als ein einer noch größeren Erweiterung fähiger anzusehen ist. Ich meinesteils bin der Meinung: wenn das Begrenzte seinen Horizont noch so weit hinaustreibt, so wird es deswegen noch immer ein Begrenztes bleiben und wird nie Gefahr laufen, die Unendlichkeit zu erfüllen.
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Der Vernunftpräses spricht: Liebe Freunde! Ihr habt hier einesteils recht, einesteils wieder unrecht. Wenn der Mensch sich selbst gegeben hätte, so könnte er sich auch so viel geben, als er wollte; denn er hätte im Unendlichen keinen Mangel gefunden, und somit stünde es auch bei ihm, seinen Erkenntnishorizont nach seinem Belieben unablässig zu vergrößern. Da aber der Mensch nicht ein sich selbst Gebendes, sondern ein Gegebenes ist, so ist auch sein Horizont ein gegebener. Wenn ihr auf einem Erdkörper beispielsweise nur einen Apfel betrachtet, so werdet ihr sehen, daß er von seinem Ursprunge an gleich nach dem Abfalle der Blüte seinen Horizont stets mehr und mehr vergrößert. Hat er aber einmal seine Vollreife erlangt, da könnet ihr dem Apfel vorpredigen wie ihr wollt, und er wird euch durch seinen Stand nichts anderes sagen können als: Bis hierher und nicht weiter! Denn mein Maß ist erfüllt. Warum aber würde euch der Apfel eine solche Antwort geben? Weil er ebenfalls ein Gegebenes, aber nicht ein sich selbst Gebendes ist. Möchtet ihr nun den Apfel weiter auseinandertreiben, so würdet ihr ihn offenbar zerstören müssen. - Und sehet, ganz derselbe Fall ist es mit dem Menschen. Er ist ein Gegebenes und kein sich selbst Gebendes; somit ist auch sein Reifebezirk ein gegebener. Der, welcher diesen Bezirk erreicht und dann in sich erkennt, daß dies sein gegebener Bezirk ist, der ist in sich selbst als das, was er ist, so vollkommen als möglich. Bleibt er innerhalb dieses Bezirkes, denselben nicht ausfüllend, so ist er ein verkrüppelter Sklave seiner selbst und wird nicht einmal für sich selbst eine hinreichende Tüchtigkeit haben. Wer sich aber über seinen gegebenen Bezirk aufblähen will, der ist ein hochmütiger Tor und richtet sich selbst zugrunde, und es wird mit ihm nichts anderes sein als mit einer hohlen Kugel, die mit Pulver gefüllt und angezündet würde, wodurch dann wohl die Oberfläche der Kugel auseinandergerissen wird und die Teile ihrer Oberfläche in einen weiten Horizont hingehoben werden. Aber fraget euch selbst, wie es nach solch einem Akte mit der Totalität der Kugel steht?
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Der Anführer spricht: Wir haben gegen deine Äußerung im Grunde abermals nichts einzuwenden, denn sie ist an und für sich vollkommen richtig. Aber du, lieber Freund, stellst deine Antworten immer sicherlich absichtlich weise also, daß wir darin stets einen neuen Anhaltspunkt finden, über den wir uns bei dir ferneren Rat zu holen für notwendig finden. So hast du dich in dieser deiner weisen Erörterung darüber ausgesprochen, daß der Mensch wie auch alles andere Begrenzte ein Gegebenes und nicht ein sich selbst Gebendes ist. Wenn es aber sicher also der Fall ist, so fragt es sich ja offenbar, wer da der Geber ist; denn das Gegebene setzt einen Geber so sicher voraus, als was immer für eine Erscheinung ihren entsprechenden Grund. Und so möchten wir denn wohl von dir uns über den Geber einen näheren Aufschluß erbitten.
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Der Vernunftpräses spricht: Liebe Freunde! Was da den Geber betrifft, so steht derselbe über dem Horizont unserer Erkenntnisse, und wir haben alles getan, so wir uns als gegeben erkannt haben. Wollen wir aber den Geber erforschen, so tun wir nichts anderes, als so wir mit einem Zirkel in der Hand möchten den Kreis der Unendlichkeit bemessen. Solches ist sicher wahr, weil sich über einen bestimmten Kreis ins Unendliche fort größere Kreise denken lassen, mit denen der engste Kreis Ähnlichkeit hat. Wenn aber dieser engste Kreis solle einem größeren über sich vollends gleich werden, so wird er zuvor zerrissen werden müssen, seine viel kürzere Linie nach der Rundung des größeren Kreises ausgestreckt und mit derselben gleichlaufend gemacht. Solches läßt sich wohl tun; aber die Erfahrung wird es zeigen, daß die also ausgestreckte Linie des engsten Kreises vielleicht kaum den tausendsten Teil einer bedeutend größeren Kreislinie berühren wird; und so wird ihr auch nur dieser Teil gleichlaufend werden, alle anderen Tausendteile aber werden für diese viel kürzere Linie dennoch für ewig unerreichbar bleiben. - Und sehet, in diesem Beispiele haben nur zwei begrenzte Kreise miteinander zu tun. Nun nehmet aber diesen engsten Kreis und messet mit seiner ausgestreckten Kreislinie den unendlichen, unbegrenzten Kreis und fraget euch darnach selbst, als was eine solche Arbeit oder ein solches Unternehmen von seiten unserer Vernunft betrachtet werden müßte. Ich meine, eine größere Torheit kann im menschlichen Gehirne nicht gedacht werden; - und also ist es auch, so wir den unendlichen Geber erforschen wollten, wer Er ist. Und so ist es, wie ich ehedem gesagt habe, für jeden Menschen genug, wenn er sich als ein bestimmt Gegebenes erkennt und somit auch sein Erkenntnis-Grenzgebiet. Was aber den Geber betrifft, so geht dieser den Gegebenen nicht im geringsten an, indem er offenbar endlos erhaben sein muß über alles Gegebene. Was sollte aus einem Apfel wohl noch werden, wenn er seine Reife erlangt hat, was aus einem Kreise, wenn die von einem Punkte ausgehende Linie sich selbst wieder erreicht hat? - Er bleibe das, was er ist, so wird er vollkommen sein als das, als was er gegeben wurde.
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Der Anführer spricht: Du hast uns jetzt über alles den richtigen Bescheid gegeben; aber wir hätten dessen ungeachtet noch eine Frage an dich und diese lautet also: In der Gegend, da wir her sind, wird von dem sogenannten besseren Teile fortwährend die Liebe zu Gott gepredigt, und wir wissen nicht, was man damit sagen will auf dem Wege deiner weisen Art; denn wir verstehen unter Liebe ein Ergreifen und Ansichziehen. Wie kann aber ein begrenztes Wesen oder eine begrenzte Kraft eine unbegrenzte Kraft ergreifen und an sich ziehen?