Die Geistige Sonne
Band 1
Mitteilungen über die geistigen Lebensverhältnisse des Jenseits
- Kapitel 71 -
In scheinbarer Gefangenschaft der paradiesischen Augustiner. Ihr Zweifel an der Richtigkeit ihrer Handlungen
Die zwei himmlischen Mönche (denn ihr müsset solches verstehen, daß ,,himmlisch" hier soviel als ,,im Paradiese seiend" bezeichnet) gehen voraus, und die Engel gehen mit Knitteln und Säbeln hinter uns einher. Ihr fraget, wohin sie uns etwa führen werden? Sehet nur dort ziemlich gegen Norden hin, in der Ecke der großen Gartenmauer ist ein schmutziger Turm, versehen mit einer schwarzen Türe. Dort werden sie uns hineinpraktizieren. Was da ferner geschehen wird, wird die eigene Erfahrung lehren. Höret aber unterwegs ein wenig zu, worüber sich die zwei Paradiesmönche besprechen.
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Der eine sagt soeben: Was meinst du, wenn diese drei Vagabunden etwa doch Abgesandte wären von irgendeinem besseren Orte als da dieser ist, in welchem wir uns nie satt essen können, sollte man in diesem Falle sie nicht hören und sich näher erkundigen, woher sie so ganz eigentlich sind? Denn unsere Frage, die wir an sie gerichtet haben, ob sie gekommen sind von oben oder von unten, war zu vorschnell. Wir sind, wie man zu sagen pflegt, mit der Tür ins Haus gefallen. Ich setze den Fall, sie wären im Ernste von oben, und wir würden hier in diesem Paradiese höchst unparadiesisch mit ihnen verfahren, so könnte uns so etwas sehr teuer zu stehen kommen. Meine Meinung wäre demnach diese: anstatt sie in den Zwangsturm zu treiben, sie lieber dort gegen Mittag hin in den Freiheitsturm zu bringen, der nach außen überall offen steht und nur nach innen verschlossen ist.
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Der andere spricht: Lieber Freund und Bruder, ich meine doch, du wirst hier im Paradiese nicht gar ein Ketzer werden wollen. Wir wissen wohl, daß der Herr auf der Erde ohne Herrlichkeit gewandelt ist, auch war solches der Fall mit den ersten Verkündern und Ausbreitern Seiner Lehre. Du weißt aber ja, daß in jener Zeit die Kirche des Herrn eine dürftige und leidende war. Nach der großen Kirchenversammlung zu Nizäa aber hat sie über alle Heiden im weiten Umkreise gesiegt. Daher hat sie denn auch aufgehört, eine dürftige und leidende zu sein und ward dafür eine triumphierende, eine reiche Kirche, ja eine Kirche voll Glanz, Herrlichkeit, Ansehen, Macht und Gewalt.
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Wenn der Herr auf der Erde Seine Kirche und Seine Diener mit solcher Herrlichkeit ausstattet, um wieviel mehr wird Er solches hier im Reiche der seligen Geister tun. Wenn Er demnach höhere Boten zu uns senden wird, da kannst du ja doch mit der größten Zuversicht erwarten, daß dergleichen Boten nicht in der Gestalt solcher wahrhaftiger Gassenreißer erscheinen werden, sondern mit großer Pracht und himmlischer Majestät. Denn es heißt ja in der Schrift, daß der Herr mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken des Himmels einherziehen wird. Wie sollten demnach solche Gassenreißer Abgesandte Gottes sein? Verkappte Boten der Hölle, ja, aber nicht höhere Boten des Himmels. Daher nur rechts hinüber in den Zwangsturm mit ihnen, der da gebaut ist aus lauter hochgeweihten Steinen, und es wird sich sogleich zeigen, wessen Geistes Kinder sie sind; denn solch ein geweihter Stein soll den Teufel ums Tausendfache ärger brennen, denn die unterste Hölle.
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Der Erstere erwidert: Gut, tue du, was du willst, ich aber bleibe bei meiner Idee. Wenn es am Ende schief aussehen wird, da kannst du alles auf dich nehmen. Und so denn mache, was du willst, ich will dir in deinem Plane nicht hinderlich sein. Siehe, der Turm befindet sich schon in unserer Nähe. Hier übergebe ich dir den Schlüssel, denn an dieser Expedition will ich durchaus keinen Teil haben. Ich aber habe bei mir es schon einigemal erwogen, daß wir in unserer römischen Kirche mit dem Verdammen allzeit eher fertig sind als mit dem Segnen. Und da denke ich so manchesmal bei mir an den Text des Herrn, da Er Seine Apostel und Jünger vor dem Verdammen und Richten auf das eindringlichste gewarnt hat.
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Aus dem Grunde habe ich mir denn auch heimlich vorgenommen, niemanden mehr zu verdammen und zu richten. Und so will ich auch solche Vornahme an diesen dreien für mich vollkommen geltend machen und sage dir daher nocheinmal: Tue du, was du willst; ich aber will durchaus keinen Anteil an deiner Handlungsweise haben.
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Der andere spricht: Also übernehme ich den Schlüssel und will üben die göttliche Gerechtigkeit; denn groß ist die Liebe des Herrn, aber Seine Gerechtigkeit steht über derselben und fordert sogar das Blut des Sohnes Gottes. Daher laß mich die Gerechtigkeit pflegen!
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Der erstere erwidert dem Gerechtigkeitspfleger kurz: Ich meines Teils weiß aus der Schrift, daß der Herr den Aposteln und den Jüngern kein anderes Gebot denn das der Liebe gab. Auch weiß ich, daß der Herr einmal einen ungerechten Haushalter zum nachahmungswürdigen Beispiel anführte, auch spricht Er einmal, daß Er über einen reumütigen Sünder mehr Freude hat denn über 99 Gerechte. Daneben aber weiß ich mich durchaus keines so gewichtigen Textes zu entsinnen, in welchem der Herr die strenge Gerechtigkeit so recht evident herausgestrichen hätte. Die Szene entscheidet sich am Ende rechtfertigend für den Zöllner, und der gesetzgerechte Pharisäer wird getadelt! Wenn ich solches bedenke, da hat die zu schroffe Gerechtigkeit von unserer Seite sehr viel verloren in meinem Gemüte. Übrigens, wie gesagt, tue, was du willst. Der Turm ist hier, die drei sind auch hier. Den Schlüssel hast du in deiner Hand, somit trete ich zurück.