Die Geistige Sonne
Band 1
Mitteilungen über die geistigen Lebensverhältnisse des Jenseits
- Kapitel 54 -
Befreiung von dem Scheinhimmel
Nun sehet, nachdem sich das Fahrzeug stets mehr und mehr dem Ufer nähert, erkennt auch unser Hauptredner seinen Tafeldiener, den er sich wohl gemerkt hat, immer besser. Er wendet sich darum an seine Gesellschaft und spricht zu ihr: Da seht einmal hin, wenn das nicht unser sauberer Tafeldiener ist, so ist unsere feuchte Unterlage kein Wasser. Oh, er ist es; sein ganzes Benehmen, sein Gesicht, seine langen blonden Haare; kurz und gut, je näher wir ihm kommen, desto ungezweifelter erscheint er meinem Auge als solcher! Wenn ich doch jetzt nur eine kleine Allmacht hätte, ich wollte ihm so recht nach meiner Herzenslust ein kleines Donnerwetter auf den Hals schicken. Kann ich aber schon solches nicht, so sollen ihn doch wenigstens, wenn wir völlig beisammen sein werden, einige ausgesuchte Zungenblitze aus meinem Munde treffen. Das glaube ich denn doch nicht, daß in diesem Geisterreiche, das heißt dort oben in dem verdächtigen Himmel und da unten auf diesem Lande, zwei auf ein Haar sich gleichsehende Geister sich vorfinden sollten. Wir wollen daher auch nicht dergleichen tun, als wenn wir ihn schon einmal gesehen hätten, sondern nur abwarten, was er selbst vielleicht bei unserer völligen Annäherung ans Ufer reden wird. Sollte er etwa nichts dergleichen tun, so werde dann schon ich mich mit ihm in ein Gespräch einlassen und sicher herausbringen, ob er der Tafeldiener ist oder nicht. Ein anderer aus der Gesellschaft aber spricht zum Hauptredner: Höre, Freund, ich setze den Fall, es ist dieser offenbar auf uns harrende Geist der uns bekannte Tafeldiener, da bin ich einer ganz anderen Meinung, wie wir mit ihm verfahren sollen, als du, mein lieber Freund und Bruder. Siehe, es war ja ohnehin dein und unser aller Wille, aus dem obigen Sitz-, Freß- und Gaff- Himmel zu kommen; der Tafeldiener hat dir meines Wissens solches auch zugesichert. Daß er gerade oben nicht mehr zu uns gekommen ist, das wundert mich gar nicht, denn erlaube mir: erstens hast du gleich nach seinem Weggehen von uns hinsichtlich des fälschlichen Textes über ihn loszuziehen angefangen, zweitens hat keiner von uns - aus eben dem Grunde - seinen Vorschlag, wie wir uns hätten verhalten sollen, berücksichtigt. Daß er uns darob ein wenig hat zappeln lassen und in eine freilich wohl überaus starke Verlegenheit gesetzt, das finde ich hinsichtlich unserer wahrhaften Brutalität gegen ihn für nichts mehr und nichts weniger als vollkommen billig. Da wir aber höchst wunderbar und überaus wohlbehalten gerettet worden sind, und das sicher durch niemanden als durch ihn, so bin ich der Meinung, wir sollten mit unserem Donnerwetter, unserer Zungenblitzerei und der Erkundigungsschlauheit so hübsch fein zu Hause bleiben. Sonst könnte es ihm etwa einfallen, unser noch einmal zu vergessen, und dieses uns nun sehr nahe Land ebenfalls so locker zu machen als wie das dort oben im Himmel.
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Der Hauptredner spricht: Mein schätzbarster Freund und Bruder! Du hast im Ernste nicht unrecht; ich war ein wenig hitzig, aber deine Rede hat mich jetzt vollkommen nüchtern gemacht. Es könnte dieser Tafeldiener ja ein verkappter Engel sein, obschon ich bei ihm noch keine Flügel gesehen habe, welche er wohl sehr leicht unter dem Kleide verborgen haben kann. Und wenn er so etwas wäre - die heilige Dreieinigkeit stehe einem bei! - da müßten wir doch schön den Kürzeren ziehen, denn solch ein Engel soll ganz entsetzlich stark sein. Ich habe mir's einmal von einem recht frommen Geistlichen erzählen lassen, daß so ein Engel, mit seiner überaus großen Stärke, die ganze Erde gar leicht mit einem großen Flammenschwerte auf einen Hieb entzwei hauen könnte. Wenn wir ihm daher hier etwas grob entgegen kämen, wie leicht möglich wäre es wohl da, daß er unter seinem Rocke nebst seinem Flügelpaare auch so ein wohlgenährtes flammendes Schwert besäße. Ich will nicht weiterreden, was er damit gegen unsere entsetzliche Schwachheit alles auszuführen imstande wäre.
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Der andere spricht: Ja, ja, lieber Freund und Bruder, in diesem Punkte hast du wieder ganz recht. Wenn er auch in der Heiligen Schrift nicht eben sehr bewandert zu sein scheint, so kann er aber deswegen doch ein wirklicher Engel sein; und so denn wollen wir uns ihm ja demütigst nahen.
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Ein dritter aus der Gesellschaft bemerkt und sagt: Höret Brüder! Drei Köpfe und sechs Augen sehen mehr als einer und zwei Augen. Ich bin der Meinung, wir sollten auch hinsichtlich der Heiligen Schrift und der Textverwechslung, oder vielmehr der Namensverwechslung bei der Kundgabe eines Textes, durchaus kein Aufhebens machen. Denn was wissen denn wir, wie die himmlischen Geister, und ganz besonders die Engel, das göttliche Wort innehaben, wie sie es lesen und wie sie es verstehen. Es könnte ja auch sehr leicht sein, daß der Johannes solches von Christo aussagte, hat es aber entweder selbst nicht aufgezeichnet oder es ist durch die vielen Überlieferungen so wie meines Wissens ein ganzer Brief des Paulus für die Welt verloren gegangen. Im Himmel aber wird dergleichen sicher nicht verlorengehen. Also meine ich, wie schon gesagt, wir sollen in dieser Hinsicht mit unserer Unwissenheit eben nicht zu viel Rühmens machen. Ich war auf der Welt, wie ihr wißt, selbst ein Geistlicher und sogar ein Doktor der Theologie und habe als solcher in dem hl. Buche wohl manche Lücken gefunden, habe mich aber damit getröstet: wären dergleichen abgängige Stellen für das Heil der Menschen unumgänglich notwendig, so hätte es der Herr auch nie zugelassen, daß sie wären verlorengegangen. Und ferner dachte ich dabei, daß sich dergleichen Stellen einst im Himmel zu einem höheren geistigen Zwecke allerreinst vorfinden lassen werden. - Sehet, der Hauptredner und auch alle andern sind mit diesem Vorschlage völlig zufrieden.
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Nun aber ist auch unser Fahrzeug ans Ufer gestoßen und die ganze Gesellschaft, über hundert Köpfe stark, begibt sich an Land, und der ihrer harrende Tafeldiener geht der ganzen Gesellschaft mit offenen Armen entgegen. Unser Hauptredner geht ehrerbietigst zu ihm hin und sagt: Bist du es, oder bist du es nicht? Der Tafeldiener spricht: Ja, ich bin es! Und wir sind hier wieder zusammengekommen, wie ich es dir schon oben habe zu erkennen gegeben. Du hast mit deiner Gesellschaft die von mir vorgeschlagenen Bedingungen nicht gehalten, also konnte auch ich die meinigen nicht halten nach dem Maße, wie ich es dir habe zu erkennen gegeben, und zwar aus dem Grunde, weil du dein Maß verrückt hast. Dennoch aber wollte ich dich freimachen von deinem Irrhimmel; also mußte ich denn nach deinem verrückten Maße auch einen verrückten Weg einschlagen, um dich und diese ganze Gesellschaft aus dem Scheinhimmel zu bringen.
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Du fragst mich nun, was denn ein solch sonderbarer Weg in seiner höchst wunderbaren Weise bezeichne, und fragst noch ferner, was der offenbare Widerspruch zwischen der dir von mir an der Tafel gezeigten Festigkeit und dem dann aber doch bald erfolgten örtlichen förmlichen Einsturze des Himmels bezeichne? Denn im naturgemäßen Sinne wäre solches eine offenbare Prellerei. Ich sage dir, solches alles hat einen mit eurem Inwendigen ganz vollkommen übereinstimmenden Sinn; denn als ich dir noch an der Tafel deines Himmels Festigkeit zeigte, da zeigte ich dir nichts anderes als deine noch feste Begründung in der Irrtümlichkeit deines Himmels.
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Da du aber in meiner Nähe das Unzulängliche und allerwiderlichst Törichte deines Himmels zu verspüren anfingst, da hobest du dich vom Zentrum deines Irrtums und flohst mit vielen, die, heimlich auch von mir angeregt, deiner Ansicht waren. An weiter Grenzmarke deines Irrtums zeigte ich dir alles, was dich noch an deinen törichten Himmel fesselte. Solches hättest du beachten sollen, du aber bliebst selbst noch an der Grenze deines Irrtums fest an selbem hängen und mochtest nicht begreifen, was ich zu dir gesagt habe. Darum wolltest du denn auch in deinem Irrtume vorwärtsschreiten. Nicht ich, sondern das Wort, das ich zu dir geredet habe, hat aber, trotz deines Fortschreitenwollens, deinen Irrtum gelockert und zerriß ihn an mancher Stelle, durch welche du gar leicht den völligen Ungrund deines Scheinhimmels zu erschauen vermochtest. Ja, am Ende hat dich mein Wort ganz gefangengenommen. Die noch zu Schwachen trennte es von dir durch eine neue Kluft und du warst somit, wie gesagt, vollends ein Gefangener.
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Da dadurch dein Irrtum stets mehr und mehr einzusinken begann, so flohst du mit deiner Gesellschaft auf die Mauer. Diese Mauer war das in dir zwar haftende, aber in allen Teilen gänzlich unverstandene göttliche Wort. Daher hatte sie für dich und deine Gesellschaft auch keine Tragfestigkeit. Sie trennte sich scheinbar und fiel mit euch herab in die Tiefe, das heißt, das Wort, welches bis jetzt nur euern Verstand beschäftigte, fiel zu einem kleinen Teile in die lebendige Tiefe eures Herzens. Ihr ersahet da gar bald ein großes Gewässer unter euch, welches euch zu verschlingen drohte. Aber dieses Gewässer war nichts anderes als die erschauliche Erkenntnisweisheit, welche in diesem geringen Teile des Wortes, das in deine Tiefe fiel, verborgen ist. Mit dieser Wortmauer in deinem Herzen erreichtest du bald das große, lichte Erkenntnismeer, und das Wort ward dir, wie euch allen, zu einem sicheren Träger über die unendlichen Fluten der göttlichen Weisheit, welche da verborgen ist auch in diesem nur kleinen Wortteile. Als du das Wort in dir heimlich stets mehr und mehr aufnahmst, trug dich dasselbe nach dem Grade deiner Aufnahme einem festen Lebensufer näher und näher. Und nicht eher hättest du dasselbe erreicht, als bis dieses Wort über den Eigendünkel deines Herzens völlig gesiegt hätte. - Das Wort aber hat gesiegt, und so bist du mit demselben auch ans feste Ufer gestoßen.
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Denke nur zurück an alle die lächerlichen Faseleien, welche zwar samt und sämtlich deiner gutmütigen Außenhaut entsprossen sind, und du wirst das Unhaltbare und Leere aller deiner Begriffe über Gott und Himmel gar leicht erschauen. Nun aber bist du auf dem ersten wahren Grunde des Wortes; daher forsche auch auf diesem Grunde, und du wirst samt deiner Gesellschaft Gott und den Himmel von einem ganz anderen Gesichtspunkte zu erkennen anfangen.
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Siehe dorthin, zwischen Morgen und Mittag steht ein großer Palast. Dahin sollet ihr euch begeben. Ihr werdet dort alles antreffen, dessen ihr bedürfet.
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Und unser Hauptredner spricht: O lieber, himmlisch hochgeschätzter Freund! Möchtest du denn nicht so gut sein und uns dahin begleiten? Der vermeintliche Tafeldiener spricht: Solches ist nicht vonnöten; denn ihr werdet bis dahin den Weg nicht verfehlen, ich aber will vorausziehen, so schnell wie ein Gedanke, und will euch dort empfangen und einführen! Dort erst werden wir einige Worte über Johannes und Paulus näher beleuchten, und es wird sich zeigen, wer aus uns allen der Wortkundigste ist. Also befolget meinen Rat und ziehet dahin. Amen! - Sehet, der vermeintliche Tafeldiener ist plötzlich entschwunden und unsere Gesellschaft fängt an, den vorbezeichneten Weg, freilich noch ziemlich verblüfft, zu gehen. Wir aber wollen ihr auch folgen und Zeugen sein, was alles Denkwürdiges sich noch zutragen wird.