Das Grosse Evangelium Johannes: Band 10
Lehren und Taten Jesu während Seiner drei Lehramts-Jahre
Der Herr im Jordantal
- Kapitel 241 -
Die Unvollkommenheit des menschlichen Wissens
Sagte der Wirt: ,,Ja, Du wundersamer Meister, diese Deine kurze Antwort auf meine ziemlich gedehnte Frage war mir verständlicher denn die frühere; aber ich muß mich auch dabei eines Spruches der alten Weisen erinnern, demnach unter der Sonne nichts Vollkommenes existiert, alles menschliche Erfahren, Wissen und Erkennen ein Stückwerk ist, und daß eben derjenige, der es durch seinen Fleiß dahin gebracht hat, vieles zu wissen, am Ende einsehen , daß der Mensch, so er auch alles gelernt, gesehen und erfahren hat, erst dann am weisesten wird, so er zu der Einsicht gekommen ist, daß er eigentlich gar nichts weiß, - denn alles weiß nur ein göttlicher Geist, der Mensch aber nur so viel, als ihm dieser Geist, gewisserart ihn anhauchend, mitteilen will.
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Es ist aber auch zu einer tieferen Ausbildung des Menschen sein Leben viel zuviel veränderbar und zu kurz. Ist der Mensch noch jung und kräftig, so ist er mit allerlei Leidenschaften behaftet, mit guten und schlechten, denen er frönt und sich daher sehr schwer zu einem reineren Lichte aus dem Geiste Gottes erheben kann; unter tausend vielleicht kaum einer, der davon eine Ausnahme macht. Endlich wird der Mensch älter und kommt zu einer etwas geläuterten Ansicht; allein da wird er schon oft kränklich, müde und träge, hält sich bloß an die äußeren Gesetze und Formen und läßt dabei den göttlichen Geist ein gutes Wesen sein. Er erreicht, wenn es gut geht, sechzig, siebzig, auch achtzig Jahre; aber in diesen alten Tagen denkt er schon immer an den Tod, wird mutlos und kraftlos, und ein intensives Sich- Beschäftigen mit dem Geiste Gottes ist ihm oft gar nicht mehr möglich.
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Und so steht es mit der wahren Weisheit unter den Menschen immer schlecht, und das aus den früher angeführten drei Gründen. Ja, wenn ein Mensch in der wahren Manneskraft zum wenigsten dreihundert Jahre alt werden könnte, so stünde es mit der wahren Weisheit unter den Menschen auch sicher besser als jetzt; aber so kann er infolge seiner kurzen Lebenszeit hie und da etwas erhaschen, aber das Erhaschte nie in einen vollkommenen Zusammenhang bringen, weil ihm dazu die nötige Lebenszeit mangelt.
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Zu Alexandrien besteht eine der größten Büchersammlungen, in denen eine große Menge in allen Fächern des menschlichen Erfahrens und Wissens aufgezeichnet ist. Wo befindet sich aber ein Mensch, der so lange lebte, daß er diese Bücher nur einmal in seinem Leben durchlesen möchte? Und so müssen wir besseren Menschen uns denn stets mit unserem alten Spruche: begnügen und vertrösten, und ich bin der Meinung, daß sich mit diesem Grundsatze auch alle noch so großen Weisen dieser Erde haben begnügen und vertrösten müssen.
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Ich habe als Krieger doch gar viele Länder der Erde durchwandert, bin aber nirgends an irgendein Ende gekommen und habe auch nichts von allem verstanden, was ich gesehen habe. Ich habe mir wohl Erfahrungen und Bilder in meinem Gedächtnisse gesammelt, aber was nützen sie mir, wenn ich nicht verstehe, was sie sind, wie sie entstanden sind und zu welchem Zweck?
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Daß gewisse gute Früchte zum Essen sind, daß in manchen Kräutern eine heilsame Kraft waltet, und daß das Gras zur Nahrung für jene Tiere dient, die wir die grasfressenden nennen, daß das Holz zur Feuerung, wie auch zum Bau der Häuser und Hütten dienlich ist, das wissen die Menschen aus der Erfahrung; aber viel weiter darüber hinaus wissen die Menschen im allgemeinen sicher nicht! Und somit erscheinen mir die Menschen auch stets als die beklagenswertesten Geschöpfe einer allmächtigen Gottheit, ob sie nun in der tiefsten Nacht ihres Aberglaubens leben oder als höchst gefeierte Weise auf dem Erdboden umherwandeln, indem sie alle zusammen nicht wissen, warum sie eigentlich auf diese Erde ohne ihr Wissen und Wollen gesetzt worden sind, - und ich meine, Du Selbst als ein überaus weiser und wundersamer Meister wirst mir da nicht unrecht geben!
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Daß es nach dem Abfalle des Leibes mit der Seele des Menschen irgendein Fortkommen und Fortbestehen haben müsse, darin sind alle Weisen der Erde, die ich kennengelernt habe, einig; aber wie geartet dieses sei, darüber besteht bis jetzt noch keine Einigung.
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Du wirst sicher in diesem Punkte auch vielleicht eine der weisesten Ansichten innehaben; aber wenn man damit die Ansichten aller andern Weisen vergleichen wird, so wird sie sich mit den Ansichten der andern Weisen nicht vereinigen lassen. - Habe ich recht oder nicht?"