Das Grosse Evangelium Johannes: Band 10
Lehren und Taten Jesu während Seiner drei Lehramts-Jahre
Der Herr in der Stadt am Nebo
- Kapitel 215 -
Die rechte Anwendung des Gebotes der Nächstenliebe
Sagte darauf Simon Juda: ,,Ja, Herr und Meister: Es gäbe wohl noch so manches, das sich in meinem Verständnisse nicht so ganz geradlinig gestalten will; aber ich denke mir: weil das mir bis jetzt am meisten ungerade Scheinende mit solch einer Leichtigkeit gerade geworden ist, so werden sich mit der Zeit die weniger krummen Linien meines Verstandes von selbst in völlig gerade umgestalten."
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Sagte Ich: ,,So fahre nur hervor mit dem, was dir irgend noch etwas ungerade vorkommt!"
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Sagte Simon Juda: ,,Herr, ich will das schon tun, aber eben nicht gar zu gern, weil ich mich dadurch vor den andern Jüngern enthülle, daß ich in manchen Stücken vielleicht blöder bin als sie; aber weil Du es schon wünschest, so will ich denn auch reden und mich selbst demütigen vor allen meinen Gefährten!
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Siehe, bei der Gelegenheit, als Du uns und das Volk von der Liebe zu Gott und von der Liebe zum Nächsten belehrtest, da gabst Du auch an, daß man sogar die Erzfeinde lieben solle, und daß man segnen solle diejenigen, die einem fluchen, und Gutes tun denjenigen, die einem Böses tun, und daß man dem, der einem eine Ohrfeige gibt, noch die andere Backe hinhalten sollte, statt ihm eine Ohrfeige zurückzugeben.
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Ich sehe es wohl ein, daß in diesem Verhalten die von Dir gelehrte und zur Ausübung anbefohlene Nächstenliebe die wahre, himmlische Form einnimmt, - denn so wir den Menschen alles das tun sollen, das wir wünschen und wollen, daß sie in ähnlichen Fällen auch uns täten, so ist dadurch das freilich wohl auch völlig gerechtfertigt, daß man sogar seine Feinde lieben soll, für die beten, die einem fluchen, und denen Gutes tun, die einem Böses tun; aber da kommt mir doch so manches noch ungerade vor, und das darum, weil in diesen Fällen die Notwehr ganz beiseite gesetzt ist. Man kann wohl dieses beachten gegen Menschen, die es in ihrer Bosheit gegen einen andern Menschen nicht zu weit treiben, aber gegen Menschen, die gegen ihre Nebenmenschen beharrlich zu wahren Erzteufeln geworden sind, sollte da solche Deine göttliche Lehre irgendeine kleine Ausnahmeabänderung finden.
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Ich will von der Ohrfeige nicht reden, und es würde mir gerade nichts machen, dem, der mir bei irgendeiner Gelegenheit eine mäßige Ohrfeige versetzt hat, am Ende, so er Lust hätte, mir noch eine zu geben, auch die andere Backe hinzuhalten, damit dann Friede und Einigkeit zwischen uns würde; aber was dann, so mein Gegner mich mit seiner ersten Ohrfeige schon beinahe halbtot geschlagen hat? Soll ich in dem Fall nicht lieber zu einer Gegenwehr schreiten, so mir diese in einer Art irgend möglich wäre, als mich von solch einem zornigen Riesen Simson ganz totschlagen lassen?
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Ich meine, o Herr und Meister, daß in dieser von Dir aufgestellten Lehre über die Nächstenliebe - freilich nur nach dem Urteil meines Weltverstandes - auch noch so manch Krummliniges vorhanden ist, das sich von unserem geradlinigen Gemütsmagen nicht gar zu leicht verdauen läßt. Ich weiß zwar nicht, ob ich klug oder unklug geredet habe; aber weil ich denn doch glaube, daß mein diesweltlicher Verstand besserer Natur sein muß, ohne die ich Dich schwerlich als den Herrn und Meister je erkannt hätte, so bin ich denn auch der Meinung, daß eben diese bessere Natur meines Verstandes auch derlei kleine Krummheiten erkennt."
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Sagte Ich: ,,Du hast eine ganz gute und richtige Frage gestellt; aber Ich muß dir auch immer dagegen die Bemerkung machen, daß du zwar wohl einen recht scharfen Verstand hast, aber dafür - woran dein vorgerückteres Alter schuldet - ein schwächeres Gedächtnis, und so erinnerst du dich an so manches nicht mehr, das Ich bei so verschiedenen Gelegenheiten zur Erklärung der wahren Nächstenliebe den Menschen hinzugetan habe.
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Das ist an und für sich schon ganz klar, daß man einem erzbösen Menschen durch eine zu große Gegenfreundschaft nicht noch mehr Gelegenheit verschaffen soll, daß er dadurch in seiner Bosheit wachse und noch immer ärger werde, als er vorher war.
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In diesem Fall wäre eine fortgesetzte Nachsicht nichts anderes als eine wahre Hilfeleistung für des Feindes überwachsende () Bosheit; dafür aber habe Ich in dieser Welt zu allen Zeiten strenge Richter aufgestellt und ihnen das Recht erteilt, die zu schlecht und böse gewordenen Menschen, nachdem sie es verdient haben, zu züchtigen und zu strafen, und habe euch darum auch dieses Gebot gegeben, daß ihr der weltlichen Obrigkeit untertan sein sollt, ob sie sanft oder strenge ist.
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Wer demnach einen so argen Feind besitzt, der gehe zum Weltrichter hin und zeige ihm solches an, und dieser wird dem schon erzböse Gewordenen seine Bosheit austreiben.
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Geht das mit puren körperlichen Züchtigungen nicht, so geht es am Ende wirksam durch das Schwert. Und so ist es auch der Fall mit der Ohrfeige. Erhältst du sie von einem minder bösen Menschen, den eine plötzliche Aufwallung seines Gemütes dazu verleitet hatte, so wehre dich nicht, daß er dadurch, daß du ihm mit keiner Ohrfeige entgegenkommst, besänftigt wird, und ihr werdet darauf leicht ohne Weltrichter wieder zu guten Freunden werden.
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Aber so dir jemand mit einer mörderischen Ohrfeige in voller Wut entgegenkommt, so hast du auch ein volles Recht, dich zur Gegenwehr zu stellen; und siehe, wenn die Sache nicht also wäre, so hätte Ich zu euch nicht gesagt, daß ihr auch den Staub von euren Füßen über jene Menschen in einem Orte schütteln sollet, die euch nicht nur nicht aufnehmen, sondern euch dazu noch verhöhnen und mit allerlei Verfolgung bedrohen.
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Oh, sei du dessen sicher, daß Ich mit Meiner Predigt von der Nächstenliebe die Macht und Gewalt des Schwertes nicht im geringsten aufgehoben habe, wohl aber auf so lange hin gemildert, als die Feindseligkeit unter den Menschen nicht jenen Grad erreicht hat, den man mit vollem Recht den höllischen nennen kann!
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Bei den Alten nach dem Gesetze Mosis und der meisten alten Richter hieß es wohl: ,Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn!`, aber da soll es bei euch nicht also sein, daß man derlei Gesetze zu buchstäblich nimmt, und daß man seinem Feinde nicht öfter denn siebenmal vergeben solle, wovon Ich euch zu öfteren Malen auch eine Erklärung gegeben habe, und die ihr auch wohl begriffen habt!
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Aber, wie gesagt, dadurch habe Ich das Gesetz Mosis, der Richter und Propheten nicht aufgehoben, sondern nur gemildert; denn diese nahmen das Gesetz zu buchstäblich und straften auch den mit gleicher Strenge, der oft sehr viel mehr zufällig als infolge seines bösen Willens seinen Nebenmenschen irgend eine oder die andere Beschädigung zugefügt hatte.
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Die Folge davon, daß sich die Richter zu strenge nach dem Gesetze hielten, war denn auch, daß das Volk zur Zeit Samuels, des letzten Richters in Israel, von Mir einen König verlangte, weil es unter ihm eine mildere Handhabung der Gesetze erhoffte als unter den Richtern. Es täuschte sich das Volk zwar, besonders mit dem König Saul, der es noch viel ärger züchtigte als die früheren Richter; aber unter David und auch Salomo ging es wohl menschlicher her als unter den Richtern.
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Aber unter den späteren Königen, besonders als das Reich unter mehrere Könige verteilt wurde, ging es dann um noch vieles ärger zu als unter den Richtern. Und als es am Ende gar zu schlecht zu gehen anfing, da blieb denn auch nichts anderes übrig, als alle Juden und auch viele andere ihrer nachbarlichen Völkerschaften, mit denen die Juden in beständiger Fehde standen, der vereinten Macht Roms zu übergeben, weil Rom in weltlicher Hinsicht die besten, weisesten und zweckmäßigsten Gesetze hatte. Und siehe, dann ging es unter den Juden, wie auch unter den andern Nachbarvölkern sogleich in voller Ruhe und Ordnung her!
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So aber nun die Juden sich nach und nach immer mehr werden zu erheben anfangen und die Priester der Juden der Römer Gesetze werden als gotteslästerlich immer mehr und mehr zu bezeichnen anfangen und jene besseren Juden darum verdammen, weil sie der Römer Freunde sind, so werden die Römer sich wieder erheben und mit großer Macht in dieses Reich eindringen und es also zerstören, daß da kein Stein auf dem andern ungebrochen bleiben wird. Und die Juden selbst werden darauf in alle Teile der Welt hinausgetrieben werden, und dann wird es auch geschehen, was Ich euch schon vorausgesagt habe, daß die Juden bitten sollen, daß diese ihre Fluchtzeit nicht im Winter und auch nicht an einem Sabbat sich ergebe; denn da würde es ihnen noch schlechter ergehen denn zu einer andern Jahreszeit und an irgendeinem Werktage. Besonders schwer wird diese Flucht den schwangeren Weibern werden.
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In der Zeit werden auch zwei Juden in einem Bette schlafen; der eine, als ein bekannter Römerfreund, wird behalten und der hartnäckige Jude verworfen werden. Und so werden auch zwei andere in einer Mühle mahlen; da wird auch aus dem gleichen Grunde der eine behalten, der andere verworfen sein. Wer da auf einem Felde arbeiten wird, der kehre um seines Rockes willen ja nicht wieder in sein Haus zurück, und wer auf seinem Hause ein Dach ausbessern wird, der steige auch nicht wieder ins Haus vom Dache, um aus seinem Hause etwas zu holen, sondern springe lieber vom Dach zur Erde und suche durch die Flucht zu retten sein Leben! Denn so er ins Haus hinabsteigt, so wird er sein Leben sicher verlieren; springt er aber vom Dache, so kann er im günstigen Falle sein Leben noch erhalten und sich retten durch die Flucht.
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Siehe, du Mein lieber Simon Juda, solches habe Ich euch alles schon zu öfteren Malen vorhergesagt, wie auch vielen andern Juden und Pharisäern, und Ich meine, daß du in allem dem keine krummen Linien finden wirst!"